Rede anlässlich der Regierungserklärung zum Sondertreffen des Europäischen Rates zu 27 am 29. April 2017

„Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Frau Hasselfeldt, es ist gut, zu hören, dass Sie an Demonstrationen für Europa teilnehmen. Gut wäre es, auch zu hören, dass Sie an Terminen mit Herrn Orban nicht mehr teilnehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Austrittswunsch des Vereinigten Königreichs ist ein tiefer Einschnitt in die europäische Geschichte. Ich bedaure diesen Schritt, ja, ich halte ihn auch für eine epochale Fehlentscheidung. Aber sie ist aus der Mitte der dortigen Gesellschaft heraus getroffen worden.

Ich glaube, es ist beinahe wünschenswert, dass das Volk seine Entscheidung noch einmal revidiert,

  • wenn es nämlich erkennt, dass es vor dem Referendum von denselben Protagonisten systematisch belogen wurde, die sich am Tag danach aus dem Staub gemacht haben,
  • wenn es erkennt, dass seine Regierungschefin zwar markige Worte findet, aber keine wirklichen Lösungen präsentieren kann,
  • und wenn es erkennt, dass es über eine sehr lange Zeit massive Einschnitte in praktisch allen Lebensbereichen hinnehmen muss.

Zu Letzterem möchte ich klar und deutlich feststellen: Diese Einschnitte werden nicht das Ergebnis einer böswilligen und strafenden EU sein, sondern das Resultat der Entscheidung einer – wenn auch sehr knappen – Mehrheit des britischen Volkes.

Frau May muss endlich der Legendenbildung Einhalt gebieten. Ohne ein Umsteuern in der Rhetorik und eine Vorbereitung der britischen Öffentlichkeit auf viele schmerzhafte Zugeständnisse werden die Austrittsgespräche scheitern. Dann würde die EU-Mitgliedschaft ungeordnet enden. Manche nennen das einen ,hard Brexit‘. Ich bezeichne es eher als einen ‚dirty‘ oder ‚chaotic Brexit‘. Das wäre aber weder im Interesse der EU, noch hilft es Großbritannien.

Der Schlüssel zu vernünftigen Lösungen liegt in London, nicht in Brüssel, nicht in irgendeiner Hauptstadt der EU und auch nicht in Berlin. Unsere Aufgabe hier ist es, unsere Ziele für den Austrittsprozess festzulegen. Das tun wir heute mit dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen. Fürs Protokoll sage ich aber ausdrücklich auch: Mit diesem Entschließungsantrag nehmen wir gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes zum Entwurf der Leitlinien Stellung.

Oberstes Ziel, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Brexit-Verhandlungen ist die Wahrung der Einheit der Europäischen Union. Deutschland hat eine besondere Verantwortung für die europäische Integration und hat in seiner ganz eigenen Weise von ihr profitiert: historisch, staatspolitisch, ökonomisch. Für Großbritannien darf es bei den Verhandlungen keine Rosinenpickerei geben. Ein zukünftiges Verhältnis kann nicht nur mit Rechten, sondern muss auch mit Pflichten einhergehen. Es darf keine Besserstellung Großbritanniens gegenüber anderen Nichtmitgliedern geben, auch nicht gegenüber Nichtmitgliedern, die in einem besonderen Verhältnis zur EU stehen.

Bei allem Verständnis für sehr unterschiedliche Partikularinteressen muss deshalb auch für uns in Deutschland gelten: Wir müssen auch von unserer Seite weiterhin jedem Versuch widerstehen, Rosinenpickerei zu betreiben. Ansonsten können wir erst recht nicht von anderen Mitgliedstaaten, die in einer weniger komfortablen Situation sind, dasselbe erwarten.

Im Gegenteil: Wir müssen von allen EU-Partnern abfordern, gemeinsam, geschlossen und solidarisch zu handeln. Ich bin angenehm überrascht, dass es derzeit keine wesentlichen Aufweichungstendenzen gibt.

Unser Höchstmaß an Solidarität muss aber den Menschen gelten, die als EU-Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien leben, und den britischen Staatsangehörigen, die sich in anderen Ländern der EU aufhalten, um dort zu arbeiten, zu studieren oder den Ruhestand zu genießen. Diesen Menschen droht der Brexit den Boden unter den Füßen wegzuziehen, ihre gesamte Lebensplanung über den Haufen zu werfen. Das darf nicht passieren. Sie dürfen nicht zum Spielball der Verhandlungen werden. Deshalb unterstützen wir das Ziel, die Sicherstellung ihrer Statusrechte zu priorisieren.

Wir werden sehr nachdrücklich darauf achten, dass niemand unter die Räder des Brexits gerät. Auch wenn es rechtlich und verwaltungstechnisch schwierig bleibt und Zeit braucht: Wir müssen alles dafür tun, so schnell wie möglich hohe Planungssicherheit für die betroffenen Menschen zu schaffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache mir aber auch Sorgen, dass der Brexit-Prozess alle politischen und administrativen Kapazitäten in der EU bindet. Auch das darf nicht sein. Wir müssen uns parallel zum Verhandlungsprozess auch um die Zukunft der EU kümmern. Das Weißbuch der Kommission und die Erklärung von Rom sind wichtige Diskussionsbeiträge dazu. An beidem müssen wir arbeiten: an einem Brexit, der die Prinzipien und die Einheit der Europäischen Union wahrt und dabei den Schaden für alle Beteiligten gering hält, und an einer Zukunft der EU, die als eine sozial gerechte und wirtschaftlich erfolgreiche Gemeinschaft zu einem handlungsfähigen Akteur auf der Weltbühne wird, um unsere gemeinsamen europäischen Werte zu verteidigen und dem Frieden zu dienen.“