Norbert Spinrath äußert sich zum Brexit und seinen Folgen

Die Europäische Union besteht weiter. Die 27 Staaten bleiben zusammen. Nationalisten werden es nicht schaffen, den Kontinent zu spalten.
Kurzfristig überwiegt die Bestürzung. Nach den Großkrisen der letzten Jahre (Finanz- und Bankenkrise, Ukraine, Grexit-Gefahr) muss die Europäische Union eine weitere – in diesem Fall von der politischen Führung eines Mitgliedstaates selbstverschuldete – dramatische Zuspitzung bestehen. Das Referendum ist aus dem innerparteilichen Konflikt der britischen Konservativen entstanden und der Unfähigkeit ihres Vorsitzenden David Cameron, den zunehmend radikal auftretenden EU-kritischen bis -feindlichen Kräften die Stirn zu bieten. Viel zu spät hat Premierminster Cameron begonnen, sich für die Europäische Union einzusetzen. Er hat nun angekündigt, nur noch bis Oktober Regierungschef zu bleiben. Wer auch immer ihm nachfolgt und dem Land vorsteht, wird den Austrittsprozess formal einleiten müssen und dabei mit den Folgen der Spaltung und der im Wahlkampf geschlagenen, tiefe Wunden umgehen müssen.

Die Austrittsverhandlungen sind zügig und konsequent zu führen. Spätestens dann wird das Land einen Realitätsschock erleben. Die EU ist eben nicht nur der Gegenstand für Spott, Häme und Überheblichkeit, so wie viele „leave“-Vertreter polemisiert haben. Sie ist vielmehr die Basis für den Wohlstand ihrer Mitgliedstaaten, öffnet Konsumenten und Unternehmern einen enormen Binnenmarkt und gibt den Menschen die Freiheit, zu leben, zu arbeiten oder ihren Ruhestand zu genießen, wo immer sie wollen. Alle diese und weitere Vorteile stehen mit dem Austritt zur Disposition.
Gegenstand der Verhandlungen ist der Austritt des Vereinigten Königreiches. Es wird weder Nachverhandlungen geben noch einen bevorzugten Zugang des Landes zu den Vorteilen der Europäischen Union ohne die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Pflichten. Entweder fällt das Land auf die Grundregeln der WTO zurück. Oder aber es akzeptiert, sich den Regeln und Pflichten des Binnenmarktes zu unterwerfen und deutliche finanzielle Beiträge zu leisten. Gleichzeitig hätte das Land aber keine Mitspracherechte mehr. Norwegen oder die Schweiz wären hier mögliche Modelle. Der scheinbare Ausbruch aus den vermeintlichen Fesseln der EU würde wieder in den gleichen enden, nur jetzt ohne Einflussmöglichkeit. Aus meiner Sicht sind alle Optionen für das Vereinigte Königreich schlecht, aber die demokratische Entscheidung seiner Bevölkerung für den Austritt ist zu akzeptieren.
Langfristig bleiben die Aussichten gemischt. Die Europäische Union wird politisch wie wirtschaftlich den Austritt verkraften. Mehr Sorgen muss man sich um die Zukunft des Vereinigten Königreichs machen. Wirtschaftlich, weil das Ausscheiden das Wachstum dauerhaft behindern wird. Sozial, weil angesichts des ohnehin hohen Defizits und ohne die sozialen Schutzrechte der EU die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Hauptlast der Krise tragen werden. Und politisch, weil das Land quer durch die Gesellschaft in Vertreter der „leave“- und „remain“-Lager gespalten ist. Seine politische Führung wird gelähmt werden durch innerparteiliche Grabenkämpfe, insbesondere bei den regierenden Konservativen. Sogar eine Abspaltung des EU-freundlichen Schottlands erscheint möglich.
Politisch sind fünf Botschaften wichtig:

  1.  Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist zutiefst zu dedauern, aber selbstverständlich ist die Entscheidung zu respektieren. Die Austrittsverhandlungen müssen schnellstmöglich beginnen, um Klarheit zu schaffen und die EU zügig vom Ballast dieser Debatten zu befreien. Die SPD-Fraktion wird  diese Verhandlungen kritisch begleiten und darauf achten, dass dem Vereinigten Königreich keine Mitgliedschaft „light“ mit bevorzugtem Zugang zum Binnenmarkt ohne den dazugehörigen Pflichten gewährt wird.
  2. Die Drohung mit Austrittsreferenden ist hochgefährlich. Sie taugt nicht als Mittel, um Zugeständnisse zu erpressen. Wer mit Austritt droht, wird damit nichts erreichen außer der Spaltung seines Landes und riskiert wohlmöglich den Verlust der Mitgliedschaft.
  3. Sicher nicht heute, aber eher früher als später muss das Thema der Reform der Europäischen Union, insbesondere für eine Vertiefung der Eurozone, wieder auf die Tagesordnung. Uns selbst müssen wir darüber klar werden, welche weiteren Integrationsschritte wir nicht nur für notwendig halten, sondern welche wir auch tatsächlich wollen. Ohne Übertragung von Souveränität zu Gunsten ihrer gemeinsamen Ausübung wird dies nicht gehen.
  4. Klischees, falsche Behauptungen, Irreleitung und Hetze müssen wir uns noch energischer entgegen stellen. Die sonst stattfindende schleichende Verzerrung der Wirklichkeit bereitet die Basis für eine öffentliche Auseinandersetzung, in der die Vernunft und die Fakten auf der Strecke bleiben.
  5. Wir alle müssen sorgfältiger mit den europäischen Institutionen umgehen. Wer ihnen beliebig die Verantwortung für Probleme zuschiebt, etwa um von eigenen, innerstaatlichen Versäumnissen abzulenken, stärkt die Europa-Gegner und gefährdet die Akzeptanz der Europäischen Union als Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft.