Rede Anlässlich der Aktuellen Stunde „60 Jahre Römische Verträge“ am 23. März 2017

„Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich teile ausdrücklich nicht das, was Frau Kollegin Eberl gerade gesagt hat; ich teile ausdrücklich zunächst einmal die Würdigung der Entwicklung, aber auch der Notwendigkeit der Römischen Verträge und ihres Geistes, die Staatsminister Michael Roth eben vorgenommen hat.

Am Samstag wird in Rom nicht nur gefeiert, sondern mit dem Bratislava-Prozess und dem Weißbuch der Kommission steht nicht weniger als die Zukunft der EU auf der Tagesordnung. Es wird von uns allen schon seit langem erkannt, dass der Status der Verträge nicht mehr ausreicht, um mit den aktuellen Erfordernissen und den Herausforderungen der Zukunft umzugehen. Wir sollten nicht so verzagt sein, wie wir es auch manchmal in Deutschland sind. Martin Luther hat sich dazu einst kräftig geäußert. Im Luther-Jahr sollte man ihn zitieren dürfen, was ich mir jetzt aber versage. Um diese Uhrzeit könnten Kinder zuhören.

Aber lassen Sie uns nicht verzagt sein. Lassen Sie uns Mut zur Weiterentwicklung der Europäischen Union haben. Diesen Mut brauchen wir, so habe ich heute vernommen, auch und gerade in Deutschland.

Parallel zum Europäischen Rat werden Tausende Menschen in Rom und in vielen weiteren europäischen Städten für ein geeintes Europa demonstrieren, so wie es auch die Bewegung Pulse of Europe seit einigen Wochen jeden Sonntag europaweit macht. Diese Menschen zeigen Mut. Sie ermuntern uns, unsere Zurückhaltung aufzugeben und Europa für uns zu begreifen und weiterzuentwickeln.

Die vorgestern veröffentlichte Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass die Mehrheit der 15- bis 24-Jährigen in Mittel- und Osteuropa die EU befürwortet und damit Mut beweist. Die Zustimmungswerte liegen in allen untersuchten Ländern bei über 70 Prozent, in Deutschland sogar bei 87 Prozent. Aber wir sind verzagt. Wir haben den Mut nicht; die jungen Menschen haben ihn.

– Genau, die jungen Menschen applaudieren. – Diese Jugendlichen sollten uns motivieren, mutig und konstruktiv über die Zukunft der EU zu diskutieren. Wir müssen nun alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Jugend Europas ihre eigene Zukunft in Europa gestalten kann.

Im Weißbuch zur Zukunft der EU stellt die Kommission fünf mögliche Szenarien zur Diskussion. Zwei Szenarien erteile ich eine ganz klare Absage, nämlich dem Rückzug auf den Binnenmarkt und einer Fokussierung auf wenige Politikbereiche. Da unterscheiden wir uns, Herr Frei und Herr Matern von Marschall. In Ihrer Aufzählung kommen die sozialen Standards nicht vor. Nicht einmal der Begriff „sozial“ ist gefallen. Beide Szenarien enthalten gravierende Folgen für Sozialstandards, Arbeitnehmerrechte und regionale Entwicklungen. Wer das will, zeigt keinen Mut. Wer das will, versündigt sich gegen den Geist der Römischen Verträge.

Frau Eberl, es ist ein bisschen realitätsfremd, auf die Sozialstandards in den jeweiligen Mitgliedsländern zu verweisen.

Sie predigen doch ständig, dass wir Konvergenz – auch bei den Wirtschaftsdaten – brauchen, um alle am größtmöglichen Profit Europas zu beteiligen. Wo bleibt denn Ihre Forderung nach der Konvergenz der Sozialstandards? Wir brauchen diese Konvergenz in Europa dringend.

 Denn die Menschen in Europa profitieren vom höchsten Gut, das Europa ihnen zu bieten hat, nämlich von der Freizügigkeit. Wenn sie diese Freizügigkeit nutzen, müssen wir auch sicherstellen, dass die sehr unterschiedlichen Sozialstandards angeglichen werden. Dafür brauchen wir das soziale Europa, und dafür brauchen Sie endlich Mut.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen hin zu einer echten gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion. Aber wir wollen auch hin zu einem sozialen Europa. Der Satz stimmt: Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit, nicht nur für die Menschen in Deutschland, sondern für alle Menschen in Europa.

Lassen Sie uns die besten Ideen und Ansätze der drei verbleibenden Szenarien des Kommissionsweißbuchs aufgreifen, mit eigenen Vorschlägen ergänzen und daraus ein neues Szenario entwickeln. Lassen Sie uns mit viel Mut an der Gestaltung Europas im Sinne der Menschen in Europa dranbleiben. Wer ein gemeinsames europäisches Haus will, Herr Hunko, ist herzlich dazu eingeladen. Wir waren gemeinsam in der letzten Woche mit einer Delegation des EU-Ausschusses in Moskau. Wer uns aber so behandelt wie die dortige politische Ebene, sendet keine Signale, dass er ein gemeinsames Haus will. Man hat uns die kalte Schulter gezeigt. Ermutigen Sie Ihre Freunde doch dazu, endlich Gesprächsbereitschaft zu zeigen! Dann können wir weiterreden.

Wir brauchen eine Weiterentwicklung in Europa. Wenn wir nicht wollen, dass sich die Menschen von Europa abwenden, dann müssen wir jetzt den Mut und die Bereitschaft zu weiteren gemeinsamen Schritten aufbringen. Sonst wird es bald fünf vor zwölf für die EU sein. Es ist nicht nur wichtig, Ergebnisse zu veröffentlichen. Nein, wir müssen vielmehr über den Weg dorthin öffentlich diskutieren. Wir müssen die Menschen in Europa erfahren lassen, wie wir Lösungen anstreben und dass die europäische Politik ihren Alltag und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Wir müssen die Menschen deutlich mehr als bisher an der Gestaltung der Europäischen Union beteiligen; denn nur dann können die Menschen Europa als ihr Europa begreifen und dafür mutig und engagiert kämpfen.“